Quellen
Ali Başars Erinnerungen an seine Ankunft in München
Ali Başar stammt ursprünglich aus Tunceli (kurdisch: Dersim) in Ostanatolien. Im Rahmen des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens kam Ali Başar im November 1961 am Münchner Hauptbahnhof an, von wo aus er ins Ruhrgebiet geschickt wurde. Dort lebt er bis heute mit seiner Familie. 2011 beschrieb er in einem Interview seine Ankunft in München und die anschließende Weiterfahrt:
„In einem großen Raum, einer Art Salon unterhalb des Bahnhofs, haben sie uns versammelt. Sie gaben uns Obst, frisches Brot, Käse – und Würstchen. Wir dachten natürlich, das sei Schweinefleisch und wollten es nicht essen. Die Männer schauten uns an und machten ‚Muuuh!‘ Wir verstanden und haben die Würstchen beruhigt gegessen. Dann wurden wir eilig in Gruppen aufgeteilt – je nach Ort und Arbeitgeber. Es breitete sich Panik aus, als wir erfuhren, dass wir getrennt werden sollten und alleine weiterreisen würden. Alle riefen durcheinander: Hasan, wo gehst du hin? Mehmet, in welche Stadt fährst du? Kaum einer sah sich danach wohl je wieder. Ich wurde mit zwei anderen Männern nach Dortmund geschickt.
Auf einmal waren wir also nur noch zu dritt: Ahmet, Şükrü und ich. Wir hatten Fahrscheine, sprachen aber überhaupt kein Deutsch und waren natürlich ängstlich, als wir uns auf den Weg machten. Vor allem fürchteten wir, in die falsche Richtung zu fahren oder dass wir uns verlieren. So stiegen wir in den Zug – und staunten: Um uns herum waren überall so gut gekleidete Frauen und Männer in Nylonhemden! Das sind bestimmt Politiker, Abgeordnete, Minister, waren wir überzeugt. Alle waren so schick! Wir haben es nicht gewagt, uns in eines der Abteile zu setzen. Also haben wir die gesamte Fahrt von München nach Dortmund im Stehen verbracht.
Auf dem Bahnsteig in Dortmund erwartete uns dann ein Mann. Und was für einer! Jung, groß, toll sah er aus. ‚Patron!‘ (Chef), sagte er und zeigte mit dem Finger auf sich. Wir hatten also unseren Arbeitgeber gefunden. Beim Verlassen des Bahnhofsgebäudes hatten wir nach der langen Fahrt Mühe, seinem schnellen Schritt zu folgen. Er setzte uns in sein Auto, einen Volkswagen. Ahmet stieg vorne ein, Şükrü und ich hinten. Bevor wir losfuhren, holte unser ‚Patron‘ ein Päckchen aus seiner Tasche und gab Ahmet eine Zigarette. Der zog daran, kurbelte hastig das Fenster herunter und spuckte kräftig aus. Der deutsche Tabak schmeckte ihm offensichtlich nicht. Unser Patron lachte.“
(Entnommen aus Huneke, Dorte. „‚Mit den Peitschenstriemen der Armut kam ich hierher‘: Im Ruhrgebiet zu Hause: Ali Başar.“ In: Goddar, Jeannette und Dorte Huneke (Hrsg.). Auf Zeit / Für immer: Zuwanderer aus der Türkei erinnern sich: Ein Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung und des KulturForums TürkeiDeutschland e.V. (Schriftenreihe 1183). Bonn 2011: 41–52, S. 44.)
Yusuf Y.s Erinnerungen an die Ankunft in München
Yusuf Y. aus der Türkei berichtet über seine Ankunft in München im Jahr 1964 (Interview vom 28.05.1999):
„Die Reise war drei Tage und zwei Nächte, und dann kamen wir spät nachts in München an. Es war wirklich kalt. Es war einfach zu viel Winter. Ich habe mir dann als erstes vorgenommen, noch mehr Unterwäsche anzuziehen. Oben hatte ich nichts – also keinen dicken Pulli oder Mantel an – nein! Wir sind dann runter in diesen Bunker. Ein Türke zeigte uns die Richtung, also er ging voran und wir hinterher. Wir waren aber einige hundert Leute, das waren so viele. Dann haben wir gesehen, dass auch viele Leute von verschiedenen Firmen da waren. Sie hatten so ein Schild in der Hand - Siemens, BMW. Also das waren viele Firmen. Und wenn jemand namentlich aufgerufen wurde, zum Beispiel zur Firma Siemens, dann ging man zu dem Mann hin – also dahin, wo der von Siemens stand. Draußen stand dann ein Bus oder ein Minibus, je nachdem, wie viele Leute er abholte, und so wurde man abtransportiert. Man hatte uns erzählt, dass welche in München bleiben, und wenn man mit dem Zug weiterfahren musste, hat man dort übernachtet und morgens wurden die Leute dann weitergeschickt. Wenn man von dem Firmenmann namentlich aufgerufen wurde, wurde man mit dem Bus abgeholt und so weiter. Gleich zu Anfang habe ich erst einmal gebeten, dass ich auf die Toilette gehen durfte. Ich wollte noch mehr Wäsche anziehen. Da hieß es: ‚Du kannst ja aufgerufen werden!‘ Ich habe gesagt: ‚Mensch, bei so vielen Hunderten von Leuten (…), nein, nein, ich gehe jetzt auf die Toilette, ich muss was anziehen.‘ Ich hatte nur Unterwäsche Hemd und Hose an. Eine Marinehose hatte ich übrigens an. Ich habe mich also angezogen und bin wieder raus. Dann saßen wir dort, da waren so ein paar Bänke, so kleine, wie heute im Biergarten stehen. Es war ein Riesensaal da unten. Man sieht das nicht, dass es so riesig ist. Vorne wurden die Namen aufgerufen, dann ging man mit seiner Akte und seinem Koffer hin und sagte ‚Hier!‘ und ging dann hinter ihm her. Ich war mit meinem Freund da und man rief meinen Namen. ‚Mensch‘, habe ich gesagt, ‚wahrscheinlich komme ich woanders hin!‘ ‚Ja‘, sagte er, ‚wahrscheinlich. Ich weiß es nicht‘. ‚Na gut – Auf Wiedersehen!‘“
(Yusuf Y., Interview vom 28.05.1999, entnommen aus Dunkel, Franziska und Gabriella Stramaglia-Faggion. ‚Für 50 Mark einen Italiener‘: Zur Geschichte der Gastarbeiter in München. Hrsg. vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München. München 2000: S.97.)
Weblinks
Haus der Bayerischen Geschichte: Gleis 11 - Ein Dokumentartheaterprojekt
http://www.hdbg.de/gleis11/
Literaturhinweise
Baumeister, Martin. „Italien: Ankommen, um zurückzukehren?: Italienische Arbeitsmigranten im Nachkriegsbayern.“ In: Alois Schmid und Katharina Weigand (Hrsg.). Bayern mitten in Europa: Vom Frühmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. München 2005: 402–418.
Dunkel, Franziska und Gabriella Stramaglia-Faggion. ‚Für 50 Mark einen Italiener‘: Zur Geschichte der Gastarbeiter in München. Hrsg. vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München. München 2000.
Egger, Simone. ‚München wird moderner‘: Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er Jahre. Diss., München. Bielefeld 2013.
Goddar, Jeannette und Dorte Huneke (Hrsg.). Auf Zeit / Für immer: Zuwanderer aus der Türkei erinnern sich: Ein Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung und des KulturForums TürkeiDeutschland e.V. (Schriftenreihe 1183). Bonn 2011.
Koschinski, Konrad. Eisenbahn in München: Drehkreuz des Südens – gestern und heute (Eisenbahnjournal, Sonderausgabe 2). 2013.
Stankiewitz, Karl. Minderheiten in München: Zuwanderung, Ausgrenzung, Integration – vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Kleine Münchner Geschichten). Regensburg 2015.
Verbindungen zu anderen Stationen
Ein Stück Heimat in der Fremde: Die Milchstube am Münchner Hauptbahnhof – Auch nach ihrer Ankunft am Münchner Hauptbahnhof blieb dieser für viele GastarbeiterInnen ein zentraler Anlaufpunkt. Mehr dazu erfahren Sie bei dieser Station.
Stationstext zum Nachlesen
Ein Gleis an einem deutschen Bahnhof. Reisende, Pendler, Touristen, Zugpersonal. Ankunft und Abschied. Die Szenen sind überall ähnlich. In den späten 1950er, den 1960er und 70er Jahren kam hier an Gleis 11 aber eine besondere Gruppe Zugreisender an: Sogenannte „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“ vor allem aus Italien und der Türkei, aus Griechenland und Jugoslawien. Zeitweise bis zu 3200 am Tag stiegen aus Zügen wie dem „Hellas-“ oder „Istanbul-Express“.
Der Hauptbahnhof stellte für die Neuankömmlinge einen der ersten Eindrücke von Deutschland dar. Eine moderne Konstruktion aus Glas und Stahl grüßte die Ankommenden. Seit dem Bau des ersten Münchner Bahnhofs am Galgenberg 1839 war der Bahnhof wiederholt verschoben, um- und ausgebaut worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der durch zahlreiche Bombenangriffe einsturzgefährdete Bahnhof abgerissen und neu gebaut.
Für die zukünftigen sogenannten „Gastarbeiter“ und „Gastarbeiterinnen“ stellte die Ankunft am Münchner Hauptbahnhof einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben dar. Sie wurden mit einem neuen Land, einer anderen Kultur konfrontiert und machten Erfahrungen, die oftmals nicht mit ihren Erwartungen zusammenpassten. So erinnert sich Nilgün Dikmen an ihre Ankunft im Jahr 1971:
„Nach drei Tagen […] wir sind hier nach München gekommen, Gleis 11. […] Ich habe [einen] sehr [großen] Schock gehabt. Ich dachte, Deutschland ist [ein] anderes Land – wie ein Paradies. Aber wenn wir in den Bunker kommen, sehr viele Leute ist hier drin, ungefähr über 500 Leute aus verschiedenen Ländern […] Wir haben hier gewartet, […] fünf Stunden später [ist] ein türkischer Dolmetscher gekommen, die Firma Siemens hat [uns] mitgenommen, nach Wohnheim gegangen.”
1960 war der ehemalige Luftschutzbunker gleich neben Gleis 11 zu einem Aufenthaltsraum umgebaut worden. Hier wurden die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter nach ihrer Ankunft hingeführt. Im Aufenthaltsraum warteten Firmenvertreter, die die Arbeitssuchenden abholten und in ganz Deutschland verteilten.
Die Geschichte der Menschheit war zu jeder Zeit tief geprägt von Mobilität und Migration - von der Ausbreitung des homo sapiens über den Erdball bis zu den durch Armut und Krieg verursachten Fluchtbewegungen der Jetztzeit. Die sogenannten „Gastarbeiter“ der deutschen Nachkriegszeit bilden in diesem Zusammenhang nur eine von zahlreichen Migrationsbewegungen, die auch Deutschland, Bayern und die Stadt München stetig geprägt haben.
Vergleichbare Phänomene lassen sich beispielsweise im 17. Jahrhundert finden. Für den Bau der Münchner Theatinerkirche wurden zahllose Italiener angeworben – international renommierte Baumeister ebenso wie einfache Arbeiter. Zur gleichen Zeit kamen aber auch Händler, Kaminkehrer und Köche aus dem Süden Europas nach München.
Zweifellos erlangten die weltweiten Migrationsbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert aber neue quantitative Dimensionen: Die Zahl der Migrierenden wuchs und dank der Erfindung von Eisenbahn und Dampfschifffahrt gelangten sie schneller als je zuvor an ihre Ziele. Bahnhöfe waren von Beginn an zentrale Knoten in transnationalen Netzwerken. Hier reisten Menschen und wurden Waren ausgetauscht. Im 19. Jahrhundert wurde der Münchner Hauptbahnhof Anlaufpunkt für viele Amerika-Auswanderer. Der Ausbau der transalpinen Eisenbahn brachte etwa zeitgleich zahlreiche italienische Wanderarbeiter in die bayerische Metropole. Während des Zweiten Weltkrieges trafen Zwangsarbeiter aus von der Wehrmacht kontrollierten Gebieten am Münchner Hauptbahnhof ein. Gleichzeitig wurden hier Jüdinnen und Juden für die Deportation in Lager im Osten zusammengezogen. Nach dem Krieg sammelten sich am Münchner Hauptbahnhof zahlreiche „Displaced Persons“ – ehemalige KZ-Insassen und Zwangsarbeiter, Ausgebombte, Flüchtlinge aus dem Sudetenland. Ab Ende der 50er Jahre wurde der Bahnhof schließlich Ankunftsort für „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“. Die deutsche Nachkriegswirtschaft war auf die ausländischen Arbeitskräfte angewiesen. 1955 hatte die Bundesrepublik das erste Anwerbeabkommen mit Italien geschlossen, 1960 das Abkommen mit Griechenland, im Jahr darauf das Abkommen mit der Türkei. 1968 schließlich wurde das Anwerbeabkommen mit Jugoslawien geschlossen – es war das letzte von insgesamt sechs binationalen Anwerbeabkommen.
Angesichts der internationalen Ölkrise stoppte die Bundesregierung 1973 die Anwerbung ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter. Viele aber, die zunächst nur für eine gewisse Zeit gekommen waren, blieben. München wurde multikulturell. Der Grieche an der Ecke, die italienische Eisdiele – sie gehören wie die Schnecken an den Türmen der Theatinerkirche zu den sichtbaren, erfahrbaren Manifestationen von Migration nach München.
Von den Bahnverbindungen auf den Balkan sind nur noch zwei Direktverbindungen geblieben. Sichtbar sind aber heute die Wagen der ÖBB, die Reisende nach Österreich und Ungarn bringen, die Wagen der tschechischen Bahn für die Verbindung München–Prag, ebenso wie der TGV zur Fahrt nach Paris. Auch unter den Reisenden, die heute im Münchner Hauptbahnhof ankommen, sind neben Touristen und Durchreisenden auch solche, die bleiben und hier eine neue Heimat finden werden.